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Interview mit Professorin Sibylle Banaschak zu: „Kinderschutz beginnt mit dem aufmerksamen Blick“

Prof. Dr. Sibylle Banaschak

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die aufgrund dringender Kindeswohlgefährdungen in die Obhut von Jugendämtern genommen werden, steigt: Bei den 69 500 Fällen, die das Statistische Bundesamt 2024 verzeichnete, zählten Überforderungen der Eltern (25 Prozent), Vernachlässigungen (12 Prozent), körperliche Misshandlungen (11 Prozent) und psychische Misshandlungen (8 Prozent) neben der unbegleiteten Einreise (44 Prozent) zu den häufigsten Anlässen. 

Wie können Ärztinnen und Ärzte frühzeitig erkennen, dass ein Kind misshandelt oder vernachlässigt wird? Welche Rolle spielt die Rechtsmedizin? Und wie gelingt interdisziplinäre Zusammenarbeit im Alltag von Kliniken und Praxen? Professorin Sibylle Banaschak, Leiterin des Kompetenzzentrums Kinderschutz im Gesundheitswesen an der Uniklinik Köln, spricht im Interview über Herausforderungen, Strukturen und die Verantwortung des Gesundheitswesens im medizinischen Kinderschutz. Am 9. Oktober 2025 gibt es beim Kongress ä 25 dazu einen Grundlagenworkshop.

 

Was war der Auslöser für die Gründung des Kompetenzzentrums Kinderschutz?

Banaschak: Ein zentraler Auslöser war die zunehmende Zahl von Fällen, in denen medizinisches Personal mit dem Verdacht die Gefährdung des Kindeswohls konfrontiert wurde – oft ohne klare Strukturen oder Ansprechpartner. 
Daraufhin hatte das Land NRW 2018 beschlossen, eine solche Einrichtung zu gründen – und gleichzeitig damit begonnen, Kinderschutzambulanzen zu fördern. Beim Kompetenzzentrum sollte die Rechtsmedizin beteiligt werden, und da Kindesmisshandlung mein Thema ist, war es naheliegend, sich bei der Ausschreibung zu bewerben. Als klinischen Partner suchten wir uns die Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln mit ihrer Abteilung für Kinderschutz für die pädiatrische Beratung.

 

Welche konkreten Aufgaben übernimmt das Zentrum im medizinischen Alltag?

Banaschak: Wir beraten Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheitswesen bei Verdachtsfällen – das ist eine Art von Konsildienst. Die Verantwortung für den jeweiligen Fall bleibt aber beim Arzt, der Ärztin oder dem Personal der Klinik, die beispielsweise ein Kind mit Verletzungen aufnimmt und von den Eltern erzählt bekommt, wie die Fraktur oder die Hämatome zustande gekommen sind. Bei den meisten Fällen handelt es sich um Gewalt innerhalb von Familien. In dieser Situation zählen dann der aufmerksame Blick und die Analyse. Unsere Aufgabe als Rechtsmediziner ist es, anhand von Fotos und der Anamnese zu beurteilen, ob diese Schilderung zu der Verletzung passt. Unser Zentrum unterstützt Kliniken und Arztpraxen auch bei der Dokumentation und Kommunikation mit externen Stellen und bietet strukturierte Fallbesprechungen an.

 

Was macht diese Besprechungen aus?

Banaschak: Daran schätzen viele, dass sie dafür den Fall für sich durchdenken und uns schildern müssen. Die rechtsmedizinische Expertise spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle, insbesondere bei der objektiven Bewertung von Verletzungen und der Beweissicherung. Meist steht schnell fest, was als nächstes geschehen muss – also etwa, ob noch bestimmte Laboruntersuchungen zum Knochenstoffwechsel folgen müssen. Passt auch nach dem Untersuchungsergebnis die Geschichte der Eltern nicht zu dem Geschehnis, sollte die Klinik Kontakt mit dem Jugendamt aufnehmen, egal ob mit oder ohne Einverständnis der Eltern. Wir empfehlen aber immer, diese mit einzubeziehen.

 

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit weiterhin?

Banaschak: Eins ist klar: Die Medizin kann Kinder zwar behandeln, wenn sich zuhause nichts ändert, können wir nicht effektiv helfen. Ziel ist eine abgestimmte Vorgehensweise, die sowohl dem Schutz des Kindes als auch den rechtlichen Rahmenbedingungen gerecht wird. 
In diesem Zusammenhang bieten wir Vorträge und Fortbildungsveranstaltungen mit Partnern an, auch online – etwa für und mit Kliniken, die Kinderschutzgruppen aufbauen oder zu den Regelungen im neuen Opferschutzgesetz. Es gibt auch Veranstaltungen, die sich an das Pflegepersonal, die Hebammen und den Rettungsdienst richten. Darüber hinaus gestalten wir Materialien wie Kitteltaschenkarten, mit deren Hilfe man sich beispielsweise schnell über das Vorgehen bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung informieren kann.

 

Gibt es besondere Herausforderungen bei der Umsetzung des Projekts im Klinikalltag?

Banaschak: Unsere Arbeit richtet sich sehr danach, was in Kliniken und Praxen benötigt wird – denn dort ist Zeit ja in der Regel knapp. Deshalb zählt es zu den Herausforderungen, das Personal zu sensibilisieren, die Kinderschutzstrukturen in bestehende Abläufe  zu integrieren und sicherzustellen, dass verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten. Für die Beurteilung eines Falles benötigt man einmal die Kinderradiologie, in einem anderen Fall vielleicht die Dermatologie oder Kinderchirurgie. Es ist herausfordernd, immer alle erforderlichen Disziplinen (und sei es virtuell) an einen Tisch zu bekommen. Auch die emotionale Belastung für die beteiligten Fachkräfte darf nicht unterschätzt werden.

 

Warum ist medizinischer Kinderschutz ein so wichtiges Thema im Gesundheitswesen?

Banaschak: Wenn wir Erkrankungen bei Kindern betrachten, dann redet man oft über Diabetes mellitus oder angeborene Herzfehler. Aber im Vergleich dazu ist Kindesmisshandlung viel häufiger – und es gibt eine hohe Dunkelziffer. Medizinisches Personal kommt häufig als erstes in Kontakt mit den betroffenen Kindern und kann Gefährdungen früh erkennen. Gleichzeitig ist der medizinische Bereich oft der einzige Ort, an dem Hinweise auf Misshandlung oder Vernachlässigung sichtbar werden. Daher tragen Mitarbeitende im  Gesundheitswesen eine besondere Verantwortung.

 

Welche typischen Anzeichen von Kindeswohlgefährdung sollten Ärzte und medizinisches Personal erkennen können?

Banaschak: Niedergelassene Ärzte sehen oft Anzeichen von Vernachlässigung bei den empfohlenen U-Untersuchungen – stellen also beispielsweise fest, wenn Kindern nicht gut ernährt sind und nicht richtig gedeihen. In Kliniken sind eher körperliche Verletzungen wie auffällige Frakturen ein Thema. Entscheidend ist eine ganzheitliche Betrachtung des Kindes und seines Umfelds. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass das medizinische Personal oder die Pflegekräfte in der Ambulanz ihre Beobachtungen weitergeben. 

 

Wie kann man Unsicherheiten im Umgang mit Verdachtsfällen – etwa in Bezug auf Schweigepflicht oder rechtliche Schritte – überwinden?

Banaschak: Die Entwicklung im medizinischen Kinderschutz mit Kinderschutzgruppen und -ambulanzen hat dafür gesorgt, dass geklärt ist: Nichtstun ist keine Alternative und wir wissen inzwischen, dass es bei Gewalt gegenüber Kindern nicht ausreicht, nur mit den Eltern zu sprechen. Hier helfen strukturierte Prozesse und die Einbindung von Fachleuten aus Recht, Jugendhilfe und Medizin. Verletzte Kinder werden in der Regel erst einmal in einer Klinik aufgenommen, damit sich die Expertinnen und Experten zum weiteren Vorgehen abstimmen können. 

 

Gibt es Beispiele für besonders gelungene Interventionen oder Präventionsmaßnahmen?

Banaschak:  Ein Beispiel sind die Kinderschutzgruppen in Kliniken, die regelmäßig Fälle besprechen und Standards entwickeln. Auch die Einführung von Screening-Instrumenten in der Notaufnahme oder die Zusammenarbeit mit Schulen und Kitas im Rahmen von Präventionsprojekten zeigen positive Wirkung.

 

Wie kann das Thema stärker in der Öffentlichkeit und in der Ausbildung von medizinischem Personal verankert werden?

Banaschak: Zum Beispiel durch verpflichtende Lehrinhalte in der medizinischen Ausbildung und die Integration des Themas in Fortbildungsprogramme. Kinderschutz muss als Teil ärztlicher Verantwortung verstanden werden – nicht als Ausnahmefall.

 

 

Fortbildungsangebot Verdacht auf Kindesmisshandlung – Grundlagen 

Der Workshop „Verdacht auf Kindesmisshandlung - was tun?“ startet am 9. Oktober 2025 um 14 Uhr während des Kongresses ä 2025 unter der wissenschaftlichen Leitung von Professorin Sibylle Banaschak. Alle Informationen dazu und die Möglichkeit, sich anzumelden, finden sich hier:

Zur Anmeldung


Weitere Informationen über das Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW und die Materialien für die Praxis finden sich auf der Website:

Kompetenzzentrum Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW
 

Das Projekt „Viola“ setzt sich ergänzend zum universitären medizinischen Curriculum deutschlandweit für die Aufklärung im Umgang mit Kindeswohlgefährdung ein. Von Medizinstudierenden für Medizinstudierende wird Sicherheit im Zusammenhang mit Kinderschutz vermittelt. Mehr Informationen: 

Weitere Infos zu dem Projekt "Viola"

 

 

 

Prof. Dr. Sibylle Banaschak